ein Jahr

Ein Jahr – mein Jahr wollte ich. Nachdem sich zum 1. Dezember 2021 bewahrheitet hat, dass Lorlatinib gut anschlägt und es so Nebenwirkungsarm (zumindest körperlich) wie keines der anderen zuvor war, habe ich mir gesagt: Das wird mein Jahr!

Und ganz genauso ist es gekommen.

ich habe in diesem Jahr Ja gesagt, zu allem was schön, spannend, inspirierend mit lieben Begegnungen verbunden war. Ich war ganz viel unterwegs, auf Reisen zu Menschen und Gelegenheiten zu lernen. Ich habe mich zu Beginn von Menschen aus meinem Leben verabschiedet, die mir nicht gut tun und werde dies wohl auch am Ende dieses Jahres tun. Ich bin gewachsen und ich bin nicht mehr bedürftig. Nicht abhängig von der Zuneigung oder der Aufmerksamkeit anderer und bekomme aber beides viel. Ich habe in diesem Jahr, zum ersten Mal seitdem ich vor 6,5 Jahren erkrankt bin, Momente erfahren, in denen ich mich fast gesund gefühlt habe, in denen ich vergessen konnte, wie krank ich bin, das Sterben müssen, so in den Hintergrund gerückt ist, wie es bei Gesunden fast immer ist. Ich habe mich „normal“ gefühlt. Und ich hatte viele Momenet voller euphorischer Glückseligkeit, vollkommen erfüllt sein von Glück. Mein Jahr.

Ist ein Jahr genug? Manchmal muss es das sein. Ich bin dankbar…

Ziemlich genau ein Jahr hatte ich, dann ist mein Tumor explodiert. Vor ein paar Tagen musste ich ins Krankenhaus, Notaufnahme. Tagelang 40° Fieber, große Schmerzen, meine linke Lunge brennt wie Feuer und fühlt sich an wie ein heißer, schwerer Stein in meinem Brustkorb. Nachts stürzt das ganze Universum auf mich ein. In der Notaufnahme noch: Ihr Tumor ist gewachsen… Eine Woche lang Antibiotika, Tag und Nacht, dann gehen die Entzündungswerte endlich runter. So ein tiefer Fall, nach diesem Jahr fliegen, falle ich wie ein Stein zu Boden:

Der Tumor ist stark gewachsen, in den linken Hauptbronchus hinein. Mein linker Lungenflügel wird nicht beatmet, schon einige Zeit. Ich atme nur mit meinem rechten Lungenflügel. Leichte Beschwerden hatte ich und habe sie auch meinem Onkologen mitgeteilt. Er hat an der Lunge nichts gehört? Mein linker Lungenflügel ist komplett verschlossen und das führt zu Entzündungen. Und dadurch, dass er aber weiter durchblutet wird und mein Blut dort hinein fließt, in der Erwartung mit frischen Sauerstoff angereichert zu werden, diesen aber nicht erhält, so laufe ich mit „Mischblut“ herum, sagt der Arzt. Halb mit Sauerstoff angereichert, halb nicht. Das ist nicht gut. Man könnte den Hauptbronchus frei machen, bei einer einfachen Bronchoskopie. Sich wieder durchbohren zur Lunge. Bis der Tumor wieder nachgewachsen ist. Lorlatinib wirkt noch ein bisschen, meine Lymphknoten im Mediastinum sind noch klein. Es gibt kein Nachfolgemedikament mehr.

Sie wollen operieren. Meinen ganzen linken Lungenflügel rausnehmen. Der ist ohnehin schon halb hinüber, ziemlich zusammengeschrumpft durch die mehrfachen Bestrahlungen und durch die Vernarbungen und das Tumorgewebe an verschiedenen Stellen. Mein rechter Lungenflügel ist komplett frei und schon lange vergrößert, weil er den linken Lungenflügel schon lange kompensiert. Nach der OP verändert sich nichts für mich, Ich atme bereits nur mit dem rechten. Vielleicht gibt es eine kleine Chance, dass durch die Entfernung des Haupttumors etwas Zeit gewonnen wird. Ganz unbestimmt, dazu kann man gar nichts sagen. Von einer Woche bis mehreren Jahren ist alles drin, es gibt keine Anhaltspunkte.

Aber so fühlt es sich an:

Für mich, aus heiterem Himmel, ist mein linker Lungenflügel futsch. Eben hatte ich da noch etwas, womit ich atmen kann, jetzt ist es ganz kaputt und zerstört. Was ist, wenn es meinem rechten Lungenflügel genauso ergeht? Wenn der Krebs dort anfängt zu wuchern? Ich habe damit gerechnet, an Hirnmetastasen zu sterben. Ich habe damit gerechnet, an Metastasen zu sterben. Nicht, dass ich einfach keine Lunge mehr zum Atmen habe. Stellt euch mal vor, ihr habt einfach nicht mehr genug Lunge zum Atmen…

Hilft nichts. Es ist eine Chance, was am Ende der Chance steht, kann keiner sagen. Hoch bin ich geflogen, tief gefallen, jetzt wieder: wie ein tapferer kleiner Soldat aufstehen und weitergehen. Damit leben, dass ich nur noch Nebel vor mir habe und blind laufe, damit leben, dass das Ende doch noch weitaus unangenehmer sein könnte, als ich es mir bisher ausgemalt habe. Ich habe immer gehofft, ich könnte bei Bewusstsein sterben. Ich müsste nicht die Entscheidung treffen: „Bitte Jetzt, die Lampen ausschalten“ Aber palliative Sedierung ist jetzt eine Hoffnung.

Es ist wie gehabt: Schritt für Schritt vorwärts und auch für das kommende Jahr gilt: ich werde es mit maximalen Genuß erleben, etwas weniger Aktivität vielleicht, aber mit Freude und liebevollen Begegnungen und Lernen.

Weiter gehts…

Der Sommer neigt sich dem Ende zu und ich gehe weiter durch mein „Glücksjahr“. Nach wunderbaren, unfassbar schönen drei Wochen Meer hat sich direkt eine ambulante Reha angeschlossen. Um den Körper wieder stärker zu machen, mich zu trauen ihn wieder herauszufordern. Am Ende der Reha und anschließender Untersuchungen kam das Go! Tatsächlich habe ich nach 6 Jahren wieder damit begonnen zu Laufen. Ich bin immer gelaufen, es hat mir so gefehlt und jetzt kann ich wieder laufen. Ich freu mich so sehr darüber, dass nirgendwo ein innerer Schweinehund aufgetaucht ist, ich laufe jedesmal total glücklich los und kommen nassgeschwitzt und rotgesichtig wieder an 🙂 Das neue Medikament bringt mir wieder eine körperliche Freiheit, von der ich in den letzten 5 Jahren nur träumen konnte und nicht geglaubt hätte, sie noch einmal wieder zu erlangen. Ich vermute, es ist nur auf Zeit, aber es ist super! Lorlatinib zieht offenbar auch brav dieses Jahr mit mir durch, das letzte Staging: stable desease, Achtung stillgestanden, niemand rührt sich, hoffentlich auch im Oktober noch nicht.

Wie bereits geschrieben: dieses Jahr ist mein Jahr und ich packe es voll mit Glückmomenten und großen und kleinen Abenteuern, ich bin furchtlos. Gestartet haben wir das Jahr mit einer Wintersonnenwoche im Januar am Meer, Anfang des Jahres war ich auf Sylt für einen langen Wochenend-Workshop (Dr. Wimmers Auszeit) für das eigene Wohlbefinden, mehr Achtsamkeit und Gut mit sich umgehen. Ich habe den halben März in der Hoge Veluwe verbracht, anschließend drei Wochen in Bergen, auf der Rückreise alleine weitergereist nach Würzburg um mich da mit den fabelhaften LungPowerWomen zu treffen, ein Kurzfilmdreh für die WDR Lokalzeit, um die Selbsthilfegruppe im Hospizverein zu bewerben, anschließend die Reha. Ich habe im Sommer erste Erfahrungen in Patientenvertretung und mit Pharmafirmen gesammelt, organisiere gerade die Vernetzung der zielgerichteten Patienten untereinander an meiner Klinik und spreche auf dem Selbsthilfetag Düsseldorf, um andere Menschen in meiner Situation dazu zu bewegen, sich Kontakte zu suchen und sich mit anderen Betroffenen auszutauschen. Der Herbst bringt ein paar Wochen Südtirol, Hoge Veluwe (ja im Sommer waren wir auch übers Wochenende da 🙂 )und ein Wochenende in München auf der YesCon um mich wieder mit den fabelhaften LPW Mädels und der MutmachGruppe zu treffen. Viel zu tun!

Die Mutmachgruppe ist eine WhatsappGruppe, die dieses Jahr gewachsen ist auf 24 Frauen, alle jung, alle Lungenkrebs, Stage 3 oder Stage 4, alle sehr, sehr nett und sie bringen jeden Tag das Handy zum Glühen! Glück, wer so eine große, kompetente, mit Wissen angefüllte, mitfühlende, schwarzhumorige Gruppe hinter sich hat. Kennengelernt haben wir uns alle über Instagram. Da verteufel einer noch mal die sozialen Medien, die haben mein Leben im letzten Jahr enorm bereichert.

Lorlatinib macht kaum körperliche Nebenwirkungen, aber verursacht kognitive Defizite. Ich spüre leichte Auswirkungen auf meine Sprache. Für andere ist es nicht so stark zu bemerken, wie für mich selbst, innerlich habe ich manchmal große Probleme Sätze zu formulieren. Es gibt eine sehr starke Vergesslichkeit bis hin zu Amnesie, so dass ich darauf achten muss, mir immer sofort alles zu notieren und zweifach abzusichern. Es ist mir nicht möglich konzentriert zu lernen, auch lesen fällt schwerer. Den Holländischkurs musste ich leider abbrechen und wenn ich im Urlaub bin, kann ich mich auch nach Wochen kaum an dem neuen Ort orientieren. Das sind zum Glück nur die leichten Nebenwirkungen, die ich habe, manche haben starke Halluzinationen oder schizophrene Schübe. Ich bin aber sehr zufrieden, für mich ist ganz klar: ich verzichte lieber auf ein paar Gehirnzellen und kann mich dafür schmerzfrei bewegen und bin leistungsfähig und nicht andauernd bleiern müde. Lieber bischen doof, aber unterwegs!

So ganz kann ich nicht kontrollieren, wie sich das auf meine Texte und mein Schreiben auswirkt, trotzdem habe ich mit einer Freundin ein neues Projekt gestartet, wir wollen ein Bilderbuch/ Lesebuch machen für Kinder die indirekt von unserer Krankheit betroffen sind. Ich schreibe, sie malt. Mal sehen, ob was gescheites dabei heraus kommt. Noch so ein Mini-Abenteuer… Habe ich schon den Yoga-Kurs erwähnt? 🙂 Wenn ich alles so niederschreibe kommt es mir selbst so vor, als hätte ich durch die vergangen körperlich anstrengenden Jahre etwas Nachholbedarf…

Es ist erst Halbzeit! Der Herbst und der Winter liegen voller Versprechungen vor mir

Macht euch ein schönes Leben, wenn ihr könnt 😉

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